Schwein gehabt! – Echt jetzt?

Sekprüfung in der 4. (!) Klasse – in meiner damaligen Wohngemeinde zur damaligen Zeit obligatorisch für alle, die in die Sekundarschule wollten. Und ja, ich wollte. Allerdings hatte ich es nicht so mit den Geschlechtsbezeichnungen der Tiere. Eber und Erpel waren meinem Alltagswortschatz fremd. Mit Verwandtschaftsbezeichnungen bekundete ich auch Mühe. Schwägerin und Schwager, Nichte und Neffe sprengten mein Vorstellungsvermögen. Zu meinem Leidwesen gehörten aber Tiere und Verwandte zum Prüfungsstoff.
Vorlesen konnte ich auch nicht. Das bereitete meinen Eltern schlaflose Nächte, war doch Vorlesen fester Bestandteil der mündlichen Aufnahmeprüfung – eigentlich. Ich hatte Glück und durfte den Text still für mich lesen. Auch Tiere und Verwandte kamen nicht vor. Ich hatte die Prüfung bestanden und meine schulische Laufbahn ging tatsächlich an der Sekundarschule weiter. Schwein gehabt!
Mittlerweile lese ich Texte im Akkord, kann die Sau spielend vom Eber unterscheiden und weiss sogar was Jager und Remonten sind.
Später wurde die Selektion in die 6. Klasse verschoben – besser wurde sie dadurch nicht. Immer noch ist es mehr dem Zufall geschuldet, ob jemand die Sekundarschule oder die Realschule besucht. Soziodemografische Merkmale wie Wohnort, Sprache, Nationalität und Beruf der Eltern spielen eine grössere Rolle als die Fähigkeiten der Schulkinder. Ist die Selektion einmal erfolgt, entwickeln sich diese je nach Schultyp unterschiedlich: Wer hat, dem wird gegeben. Oder anders gesagt, wer einmal in der Realschule gelandet ist, hat kaum noch Chancen aufzuholen. Durchlässig ist unser Schulsystem leider nur auf dem Papier.
Ich erinnere mich noch gut, wie wir als ganze Familie vehement gegen das sogenannte Modell 6/3 waren. Man könne doch den Guten nicht zumuten noch zwei Jahre länger mit den Schlechten zusammen lernen zu müssen. Die Guten und die Schlechten – mittlerweile ist es wissenschaftlich erwiesen, dass wir diese nicht so einfach auseinanderhalten können.
Ich unterrichte am Gymnasium. Dort sind nur die ganz Guten, oder? Falsche Vermutung! Auch in meinen Klassen sind die Unterschiede gross. Einige Gymnasiast:innen brauchen noch und noch Zusatzherausforderungen, andere sind mit dem Basisstoff am Limit. Homogene Klassen, wie sie mit der Selektion versprochen werden, existieren nicht einmal am Gymnasium. Solche hätten wir nur bei Einzelunterricht – eine kaum erstrebenswerte Alternative.
Homogenen Gruppen begegnen wir auch später in unserem (Berufs-)Leben nicht. Und das ist gut so. Unterschiedliche Begabungen und Fähigkeiten bereichern unser Zusammenleben. Wir unterstützen uns gegenseitig. Nicht alle müssen alles in Perfektion beherrschen. Dies hat auch eine wirtschaftliche Dimension: Arbeitsteilung und Handel haben zu enormen Wohlstandgewinnen geführt.
Doch zurück zur Schule: Angesichts von Überalterung und Fachkräftemangel können wir es uns schlicht nicht mehr leisten, Schüler:innen beim Übertritt in die Sekundarstufe I in solche mit und solche ohne Potenzial zu unterteilen. Die Selektion vor dem Übertritt in die Sek I belastet Kinder, Eltern und Lehrpersonen und nützt nachweislich niemandem. Wir müssen Wege finden, unsere Kinder wirksam und zukunftsorientiert zu fördern. Die Kantonale Initiative für einen selektionsfreien Übertritt in die Sekundarstufe I bietet hierzu eine wertvolle Gelegenheit.